Ab wann darf ich mich kinky nennen?
Ich finde es immer wieder amüsant, wie in der öffentlichen Wahrnehmung die Grenzen zwischen kinky und „normal“ regelmäßig verschwimmen. Sobald man die 33 oder 77 besten Sex-Tipps einer beliebigen Frauenzeitschrift liest, kann man darauf wetten, dass etwa fünf bis zehn Prozent der Ratschläge aus dem kinky Spektrum kommen. Sei es nun die zärtliche Fesselung, das Verbinden der Augen oder womöglich sogar ein leichter Klaps auf den Po – viele vermeintlich perverse Praktiken sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Aber wo ist die Grenze? Und warum gibt und braucht es die BDSM-Szene immer noch?
Die eigene Einordnung zählt
Was ich bei vielen Stammtischbesuchen gelernt habe: In den meisten Fällen gibt es keine klaren Grenzen. Viele Menschen bauen gern BDSM-Elemente in ihre Schlafzimmerspiele ein, aber haben genauso gerne Sex ohne BDSM. Wieder andere möchten auf die kinky Komponente auf gar keinen Fall verzichten. Aber hat die eine Gruppe dadurch mehr Anspruch auf eine Kinky-Klassifizierung als die andere? Ich finde nicht. Entscheidend ist meines Erachtens viel eher, in welchem Bereich sich die Menschen „zuhause“ fühlen. Ob sie sich gern mit anderen Perversen über Fesselungsmethoden austauschen wollen oder ob sie gegenseitiges Hauen als so normal erachten, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, es könnte sich um BDSM handeln.
Die BDSM-Einordnung ist für alle diejenigen hilfreich, die ein Informations- und Austauschbedürfnis haben. Also eine Anlaufstelle möchten, um zu wissen, ob sie trotzdem normal sind, worauf sie achten sollten oder wo sie Gleichgesinnte in ihrer Nähe finden. Die oft irgendwann einen Freundeskreis innerhalb der Szene aufgebaut haben, so dass sie auch mit langjähriger Erfahrung immer wieder zu Events kommen. Selbstverständlich ist auch das Knüpfen neuer Kontakte ein wichtiger Aspekt.
Zugehörigkeit spüren
Aber um nochmal auf das Zuhause zurückzukommen: Ich habe das Gefühl, dass es vielen Menschen in der BDSM-Szene sehr wichtig ist, eine Zugehörigkeit zu empfinden, weil sie sich im Vanilla-Kosmos nicht mehr repräsentiert fühlen. Ich merke das selbst oft bei Liebesfilmen amerikanischer Herkunft, die ich mir vor lauter Klischees teilweise gar nicht mehr zu Ende angucken kann. Sei es in Bezug auf Eifersucht oder sei es in Bezug darauf, dass ein Mann und eine Frau auf gar keinen Fall platonisch miteinander befreundet sein können. Meiner persönlichen Erfahrung nach ist hier die BDSM-Szene, die sich in weiten Teilen ja auch mit der Poly-Szene überschneidet, sehr viel weiter. Schon allein dadurch, dass über bestimmte Themen wie z.B. Sex einfach mal gesprochen wird (vgl. BDSM-Gespräche und ihre Hürden). Natürlich gibt es immer noch unausgereiftes Verhalten einzelner Beteiligter, schließlich lernen wir alle jeden Tag dazu, aber im Großen und Ganzen gibt es ein gemeinsames Verständnis dessen, was Beziehungen sein können. Und eine Offenheit, sich auf neue Themen einzulassen.
Ein Herz für die Hardcore-Spieler
Außerdem gibt es wohl tatsächlich noch einige Vorlieben und Fetische, die den Bevölkerungsdurchschnitt wohl eher in Angst und Schrecken versetzen als dass sie Lust auslösen. Gerade für solche Themen ist ein BDSM-Stammtisch gut geeignet, denn auch wenn hier im ersten Moment kurz geschluckt wird, ist normalerweise allen klar, dass auch krassere Praktiken zu unserem Spektrum gehören. Man könnte hier TPE (Total Power Exchange, vgl. Gastartikel Switchen trotz Machtgefälle?) oder Rape Play nennen, wobei das verschiedene Menschen auf sehr unterschiedliche Art und Weise empfinden können. Insofern zählt letztendlich auch hier die Einordnung jedes Einzelnen. Und irgendwann steht man sowieso vor der Frage, ob das jetzt überhaupt wichtig ist oder ob man auch mal ohne seine Schublade Spaß haben kann.