Der steinige und einsame Weg zur Erkenntnis: „Es geht auch anders als monogam!“
Ich gebe es zu: Ich strebe sehnsüchtig danach, unabhängig von Verurteilungen zu sein. Bislang habe ich allerdings noch nicht so viel Unabhängigkeit vom Urteil anderer und ihrer Anerkennung erlangt. Abwertende, oder vermeintlich abwertende, verbale und non-verbale Rückmeldungen lassen mich meistens nicht kalt und gingen mir in der Vergangenheit schon häufig durch Mark und Bein.
Aber gerade in diesen vergangenen Monaten, in denen ich aufgrund der Bestimmungen durch die Anti-Pandemie-Maßnahmen noch isolierter war als sowieso schon, konnte ich an mir beobachten, dass ich auf dem Weg bin:
Ich werde immer unabhängiger, mache immer mehr ‚mein Ding‘ und lebe als Einzige inmitten von monogamen Kleinstadtpaaren und -familien anders. Das viele ruhige Mit-Sich-Sein half mir dabei, mich weniger zu vergleichen und mehr auf die fürsorglich-selbstbewusste innere Stimme zu hören, die sich nicht den Erwartungen des Umfelds anpassen wollte. Sie sagte:
Nur weil fast alle in meinem Umfeld einen Partner haben, dem sie treu sind und mit dem sie den Alltag teilen, sich verloben, heiraten, ein Haus bauen und Kinder kriegen, muss ich das nicht auch. Ich will frei sein und frei bleiben, unabhängig werden, autonom meinen Alltag gestalten und mein Leben von tiefgehenden Begegnungen und Gesprächen mit verschiedensten Menschen geprägt sein lassen. Das möchte ich, auch wenn niemand es mir vorlebt und mir zeigt, dass man auch so allein erfüllt leben kann. Ja, ich fühle mich zu mehreren Menschen parallel hingezogen, ich möchte aber lieber mehrere unterschiedliche Menschen distanter in meinem Leben haben als einen immer da und immer nah. Ich muss mich nicht anpassen, ich kann leben, wie ich mich fühle! Ich liebe viele unterschiedliche Menschen auf viele unterschiedliche Weisen und habe viele unterschiedliche Beziehungen parallel. Ich treffe sie lieber ab und zu und habe intensives Verlangen und Begegnen als dass alle selbstverständlicher Teil meines Alltags sind. Ich bin voller Liebe und Neugier. Ich möchte mich nicht dauerhaft binden. Und es ist schön und in Ordnung, dass ich mich so fühle. Ich darf und kann so leben!
Ich hörte auf diese Stimme und bezeichne mich nun stolz als solo-polyamor.
Auch wenn ich definitive Kategorisierungen nicht mag.
Der Weg hierher war steinig und einsam.
Und er ist es immer noch und wird es wohl noch lange sein.
Denn ich lebe nun einmal nicht in einer ‚Poly-Community‘, sondern in diesen traditionellen Kontexten auf dem Land, wo es quasi nur Einfamilienhäuser gibt, in denen monogame Familien leben, und bin auch im Freundes- und Familienkreis zum größten Teil von Paarbeziehungen mit dem Postulat exklusiver Treue umgeben, was mein ‚Standing‘ nicht leichter macht. In meinem ‚monogamienormalen‘ Umfeld wissen die meisten entweder nichts von meinem alternativen Beziehungskonzept, oder sie wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, wenn sie es erfahren, oder sie stellen mir in Abrede, dass ich wirklich so fühle und dass Polyamorie wirklich funktionieren kann. Wie man mit solchen Reaktionen umgeht, das ist eine schwierige Frage, aber eine andere Geschichte.
Damals: Anders fühlen verboten
Ich hatte einen, wie es im ‚Mainstream‘ genannt wird, ‚Freund‘. Das hieß, einen festen Partner, den ich einzig und allein lieben und begehren sollte. Ich fand meinen Freund nett und schön und liebte ihn. So weit, so normal.
Dann warf ich mich in neue Gefilde und Umgebungen und spürte, wie auch andere Menschen auf mich wirkten, wie ich Anziehung und Verliebtsein auch in der Nähe anderer Menschen wahrnahm. Ich erkannte es aber nicht an; verbot mir, so zu fühlen.
Aber so funktionierte das für mich nicht, das hatte ich schon als Jugendliche erkannt. Damals hatte ich verschiedene ‚Freunde‘ und habe währenddessen trotzdem schon Intimität und Verliebtheitsgefühle mit anderen ‚Jungs‘ erlebt, und ‚ging‘ irgendwann auch ‚fremd‘, was, monogamie-folgerichtig, die damalige Liebesbeziehung beendete.
Ich fühlte mich schlecht, ‚falsch‘ und ‚böse‘. Ich kannte ja nichts anderes als ‚Zusammen-Sein mit dem Einen Freund‘, also versuchte ich, mich zu verbiegen und der Monogamie-Norm anzupassen. In der darauffolgenden Beziehung ließ ich mich jedoch im Strom meiner Spontaneität, Impulsivität und Emotionalität, die ich heute nicht unterdrücke, sondern gutheiße, wieder zum ‚Fremdgehen‘ hinreißen. Wieder gestand ich es dem festen Partner, der Brechreizgefühle bekam, die Beziehung aber in diesem Fall deswegen nicht beendete. Nebenbei bemerkt gab es hieraufhin die Wendung, dass im weiteren Verlauf der Liebesbeziehung ironischerweise ich ziemlich eifersüchtig wurde, aber das ist auch eine andere Geschichte.
Wie dem auch sei, auch die Beziehung endete irgendwann und es vergingen Jahre der Selbstanalyse und Reflexion, des Experimentierens und des Ver- und Entliebens. Immer mehr merkte und gestand ich mir ein, dass das Modell der Monogamie, oder besser, der Monoamorie, mit der geforderten Exklusivität in Bezug auf Liebe und Sex, meiner Natur ganz und gar nicht entsprach.
Die Stimme wurde lauter mit der Zeit: Mein ‚Fremdgehen‘ war nicht ‚böse‘ oder ‚falsch‘. Ich wollte einfach ‚nur‘ offen und ehrlich vor mir selbst und anderen mit meinem Lieben umgehen.
Es dauerte so viele Jahre, weil ich weder mit Menschen noch mit Literatur noch mit Filmen konfrontiert wurde, die so waren, liebten, lebten. Im ‚Mainstream‘ sind ja bis heute leider meistens One-And-Only-Liebes- und Sexszenarien zu vernehmen, die immer wieder suggerieren, dass der/die Eine nur gefunden werden muss… Und das sei dann die die ‚Eine‘, lebenslange wahre Liebe – alles andere sei ja keine ‚richtige‘ Liebe…
Heute: Mut zur eigenen Liebes-Philosophie
Ich liebe das Leben.
Ich liebe die Freiheit.
Ich liebe das Lieben.
Das möchte ich teilen!
Ich möchte mich be-leben, be-freien, be-lieben!
Ich möchte andere be-leben, be-freien, be-lieben!
Ich möchte Liebe geben und empfangen, und zwar uneingeschränkt, unfokussiert, frei!
Unlimited, unfocused, unclaiming, unpossessing love!
Bis vor einigen Wochen kannte ich fast niemanden, der diese Idee so teilte. Bis vor einigen Wochen dachte ich, ich wäre einfach ‚unnormal‘. Aber nein, trotz der vielen Gespräche mit FreundInnen, in denen mein polyamor orientiertes Beziehungsgeflecht ja immer wieder als ‚zum Scheitern verurteilt‘ abgetan wurde aufgrund von angeblich nie ausbleibender Eifersucht, blieb ich dabei und hörte auf die Stimme, die mittlerweile so laut geworden war, dass sie nicht mehr heruntergedreht werden konnte. Egal, was alle anderen um mich herum denken und sagen: Ich möchte und kann anders leben.
Und ja, es geht! Und es ging auch allein – das war besonders schwierig, aber umso dankbar-froh-stolzer bin ich nun, für mich unabhängig eine ganz eigene Lebens- und Liebensweise entwickelt und realisiert zu haben.
Ich strebe weiter sehnsüchtig nach Unabhängigkeit von Verurteilungen. Aber ich mache mir nun schon viel weniger daraus, ob und wie die anderen, die mich für ‚komisch‘ oder gar ‚schlampig‘ halten, über mich und mein Liebes- und Intimleben denken und urteilen. Es wird immer weniger und weniger auf dem Weg in Richtung Unabhängigkeit und Freiheit. Ich bin nun schließlich schon ein paar große Schritte weitergegangen auf diesem steinigen Weg.
Danke liebe Ricarda für diesen sehr persönlichen und künstlerischen Gastartikel!
Ricarda lebt allein auf dem Land und arbeitet als Lehrerin und Musikerin. Sie liebt das freie Leben, Lieben, Fühlen, Reden und Denken, ihre Arbeit, emotionales und analytisches Reflektieren, ihre Mitmenschen, und auch sich. Sie hadert zwar immer wieder mit sich und ihrem Leben und Lieben, liebt und umarmt aber auch ihr Hadern.