Elefanten zwischen flauschigen Küken – über die Folgen eines Outings
Gastartikel von „Vanilleeis zwischen heißen Himbeeren“:
Kleinstadttratsch & Blümchensex
Ich habe mich nie großartig mit Spielarten von Sexualität befasst. Ich hatte keinen Grund dazu. In einer Gegend aufgewachsen, in der sich die Menschen vor allem um ihre Einfamilienhäuser, ihre Gemüsegärten, Haustiere und Kinder, um Erst- und Zweitwagen und den nächsten Urlaub kümmern, gab es keinen Diskurs über Sexualität. Selten brach jemanden aus der homogenen Sicherheit aus, egal in welcher Hinsicht: Außergewöhnliche Klamotten tragen war ein Statement, in der Öffentlichkeit laut eine abweichende Meinung sagen eine Mutprobe, dauerhaft in die Großstadt gehen (nicht nur für die Berufsschule oder zum Studieren) ein großer Wurf. Entsprechend selten hat sich jemand in sexueller Hinsicht geoutet. Mir fällt ein einziger Bekannter ein, der sich als junger Erwachsener offiziell zu seinem Schwulsein bekannt hatte – er zog in die Stadt. Seit ein paar Jahren ist ein älterer Herr in Frauenkleidung, der auf dem kleinen Campingplatz am Waldrand wohnt und hin und wieder durch den Ort radelt, die Attraktion. Und hin und wieder erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand, dass es da zwei „Damen“ gäbe, die nachts auf dem Lidlparkplatz ihre Dienste anböten – gegen Geld. Unerhört. Und die eine, du weißt schon, die mit der Schwester eines Bekannten in die gleiche Grundschulklasse ging, die hat ja inzwischen schon den ganzen Fußballverein durch. Und ein paar junge Kerle scheinen doch tatsächlich das ein oder andere Mal Kurzurlaub in Hamburg zu machen, um mal so richtig einen drauf zu machen … Ansonsten wurde das Thema Sexualität bei uns nie groß verhandelt – auch nicht in der Teenie-Zeit. Klar, es ging immer um attraktive Jungs oder Mädels, wer gerade mit wem was hatte, etc. – aber eigentlich nie um sexuelle Identität an sich. Man war hetero, cisgender und hatte Blümchensex. Über anderes hat man zumindest nicht gesprochen.
Da ist noch mehr?
Einige Jahre später, längst selbst aus beruflichen Gründen in die Stadt gezogen, sitze ich an einem netten Samstagnachmittag mit zwei guten Freundinnen aus der Studienzeit auf der Couch. Und bei Kaffee und Keksen beginnen sie und eine weitere Bekannte plötzlich zu erzählen, dass sie auf SM stehen. Ich bin perplex. Versuche, mir mein Erstaunen nicht anmerken zu lassen, schließlich habe ich mir schon lange Toleranz auf die Fahnen geschrieben. Stelle höflich ein paar Fragen. Versuche, zu verstehen. Es geht nicht. Nicht innerhalb weniger Minuten, mit Nicken und Lächeln und dem nächsten Keks. Das Thema trifft mich nämlich tiefer, als ich mir ausgemalt hätte. Die Gemütlichkeit ist weg, trotz Luxuscouch, ich fühle mich auf einmal unwohl als „Normalo“ und weiß nicht, was ich sagen soll.
Inzwischen habe ich diese Startschwierigkeiten überwunden und unterhalte mich mit den beiden wieder unbefangen über unsere Beziehungen, über unterschiedliche Lebensentwürfe, Sichtweisen und Auffassungen. Gute Lektüre hat geholfen (z.B. „Fiese Kerle? Unterwegs mit Aufreißern. Ein hautnahes Experiment“ von Clarisse Thorn), meine Irritation abzubauen, ebenso wie weitere vertraute Gespräche. Was mich damals so erschreckt hat, würde ich heute so zusammenfassen: Es war nicht der Komplex SM an sich, sondern generell die unmittelbare Konfrontation mit etwas mir völlig Fremdem.
Die Welt hat sich schmerzhaft um ein Stück verschoben, als ich begriffen habe, wie naiv ich mich bisher mit Sexualität befasst habe. Es ist hart und macht dazu riesige Angst, wenn man begreift, dass die Realität anders aussieht, als man jahrzehntelang angenommen hat. Für mich war Sex unreflektiert Ausdruck von Liebe, von konzentrierter Geborgenheit, Zärtlichkeit. Was ich damit am wenigsten in Verbindung gebracht habe, war Schmerz, Verletzung. Für mich bis dahin ein Gegensatzpaar, das lediglich bei Sexualdelikten im selben Atemzug genannt wird. Sex und Schmerz – das klang für mich, als würde man auf eine Wiese voller kleiner flauschiger Küken absichtlich einen stampfenden Elefanten stellen. Natürlich habe ich mir dann recht schnell eingestanden, dass beim Sex wesentlich mehr eine Rolle spielt als nur Liebe. Bei meiner Erkenntnis kam mir die Welt aber zuerst einmal um ein paar Grad kälter und irgendwie trostlos vor. Und: Ich sah mich auf einmal gezwungen, mich für meine eigene sexuelle Identität zu rechtfertigen, was ich bis dahin nicht für notwendig gehalten habe. Rausgeworfen aus der Comfort-Zone.
Toleranz ist keine Einbahnstraße
„Deviante“ müssen verstehen, dass Heteronormative selten so viel Zeit und Energie in den ihnen selbstverständlichen Bereich der Sexualität investieren, wie sie es selbst tun; und, dass „Normale“ sich möglicherweise zunächst angegriffen fühlen, wenn ihre sexuelle Identität durch das Aufzeigen von Alternativen in Frage gestellt wird. Wir Normalos bitten also um Verständnis, wenn wir etwas länger brauchen – und um dieselbe Toleranz, um die ihr bittet!
Herzlichen Dank an „Vanilleeis zwischen heißen Himbeeren“ für diesen Gastartikel, der, wie wir finden, unser Blog um einen wichtigen Blickwinkel bereichert.