Erwartungsdruck und jede Menge Klischees
Vielleicht geht es nur mir so, aber in letzter Zeit fühle ich mich zunehmend von dem Rollenbild, das die Gesellschaft von mir erwarten könnte, unter Druck gesetzt: Ein Mann soll für eine Familie sorgen können und dafür erfolgreich im Beruf sein. Ein Mann kann seine Gefühle nicht zeigen und hilft nicht im Haushalt. Ein Mann soll immer Lust auf Sex haben und im Bett immer leistungsstark sein. Spätestens seit der Emanzipation sollten solche Klischees eigentlich der Vergangenheit angehören – und dennoch beschleicht mich das Gefühl, dass insbesondere bei den Männern nur wenig Veränderung angekommen ist.
Viele dieser Klischees habe ich auch schon oft gebrochen und/oder es war mir egal, was andere über mich denken könnten, wenn ich untypische Sachen tue. Ich will z.B. keine klassische Familie gründen, sondern strebe ein Leben in einer Gemeinschaft an, in der die Kinder gemeinsam erzogen werden – man ist automatisch nicht der alleinige Ernährer und es fällt leichter, diese Rolle auf andere (und hoffentlich auch weibliche) Köpfe zu verteilen. Meinen Beruf habe ich sowieso nicht danach gewählt, andere ernähren zu können, sondern sehe ihn viel mehr als Berufung. Dass ich offen mit meinen Gefühlen umgehen kann, erwies sich oft in Beziehungen als erfrischende Herausforderung: Viele Frauen, die ich kennengelernt habe, waren das von ihren vorherigen Partnern so gar nicht gewohnt.
Aber eine Sache ist für mich nicht unproblematisch: Ich habe immer weniger Lust auf Sex. Wobei ich mir oft im Kopf vorstelle, Sex zu wollen, aber mein Körper nicht die Lust dafür zeigt. Eine Freundin sagte mal zu mir, dass man von Männern glaubt, sie hätten ja sowieso immer Lust auf Sex, und deswegen würde man als Frau gewöhnlich nicht eine aktive Zustimmung suchen. Zum Glück haben meine Frauen umgekehrt bisher keine Probleme damit gehabt, wenn ich keine Lust hatte oder sogar eine aktive Ablehnung aussprach. Zugegebenermaßen lasse ich mich auch mal gerne überreden, kann aber nicht versprechen, dass die Lust auch auf jeden Fall kommen wird. Dennoch ist es mir peinlich, wenn ich mal nicht kann, weil ich nicht richtig in Stimmung bin, aber gerne vögeln würde. Zumindest ist der dahinter steckende Erfolgsdruck meine Erklärung, warum ich auch keinen Sex in Swinger-Clubs haben kann.
Natürlich könnte ich versuchen, auch dieses heteronormative Rollenklischee abzuwimmeln, wie ich es schon mit den anderen getan habe, und meine zunehmende Asexualität (?) als neuen Teil von mir betrachten. Aber trotz der zunehmenden Unlust auf Sex ist mir meine bisher gelebte Sexualität sehr wichtig und ich will an ihr auf irgendeine Art und Weise festhalten. Denn ich verspüre trotz allem das Bedürfnis nach Zärtlichkeiten und Bestätigung durch andere, das bisher nur durch das Ausleben meiner Sexualität befriedigt werden kann.
Letztendlich ist es nichts Ungewöhnliches, dass man in meinem Alter weniger Lust auf Sex bekommt. Der beste Sex ist sowieso für mich, wenn ich keine Erwartungen an meine Partnerin habe und von mir keine besondere Leistung erwartet wird. Je vertrauter mir eine Person ist, desto mehr kann sie mir das Gefühl geben, keine Leistung bringen zu müssen, und ich kann auch den letzten Teil Männerrolle ablegen. Werde ich mit der dadurch gewonnenen Unabhängigkeit von Rollenbildern nicht zu der Person, die ich wirklich bin?