(K)ein Leben ohne Vorbild
Wir wären alle gern individualistisch. Wir würden total gern etwas Neues, Innovatives umsetzen – zumindest, bis wir merken, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumindest wenn man etwas wirklich Neues macht und auf einmal keine Vorbilder mehr hat.
Einer meiner Freunde plant ein Projekt, das irgendwo zwischen Kollektiv und Wohngemeinschaft angesiedelt ist und u.a. den Zweck hat, Kinder gemeinsam großzuziehen. Als ich das einer Freundin, die komplett nach Standardmodell lebt, erzählte, fand sie die Idee eigentlich recht gut. Sie meinte auch, dass sie nicht selbst auf diese Idee gekommen wäre, weil sie gar niemanden kennt, der überhaupt offen lebt. Mir wurden in diesem Moment zwei Dinge bewusst: Obwohl diese Freundin beziehungstechnisch eher spießig und langweilig wirkt, ist sie offen genug, die Vorzüge eines solchen Projekts zu erkennen und zu würdigen. Und es hängt eine ganze Menge davon ab, dass es Menschen gibt, die einem seine Träume idealerweise schon „vorleben“. Das widerspricht unserem oben angesprochenen Wunsch nach Individualität, aber trifft auch bei mir mehr die Realität als die Vorstellung, ich würde komplett neue Beziehungsmodelle verwirklichen.
Ich konnte bereits bei mehreren Themen feststellen, dass ich bestimmte Konzepte so lange wirklich komisch oder abstrus oder beängstigend fand, bis ich Leute fand, die ich schätze und die das jeweilige Konzept meiner Meinung nach gut umgesetzt haben. Um mal konkret zu werden: Heiraten fand ich meine ganze Jugend und auch mein Studium über wahnsinnig spießig – steuerliche Gründe konnte ich nachvollziehen, aber das allein ist ja meist nicht der Grund für eine Eheschließung. Ich hatte das Bild vor Augen, dass aus den Leuten langweilige Ehepaare werden, die nur noch im Doppelpack auftauchen und so weiter. Dann kam der Tag, als ich von einem befreundeten Paar gefragt wurde, ob ich nicht Trauzeugin werden wollte. Überrascht sagte ich zu. Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass sich eigentlich nichts änderte. Die beiden waren am Tag ihrer Hochzeit wie frisch verliebt, aber die Art der Beziehung blieb unverändert offen und ist das auch über zwei Jahre später noch. Seitdem ist mein Verhältnis gegenüber Eheschließungen um einiges besser und ich weiß, dass es eher am Paar an sich liegt, ob es hinterher langweilig wird oder nicht.
Bei Kindern war es ähnlich. Viele meiner Freunde fanden Nachwuchs schon immer sehr süß, während ich eher auf Abstand gegangen bin, und meine Horrorvorstellung darin bestand, selbst welchen zu bekommen. Das ist besser geworden. Ich sehe Elternschaft noch immer sehr kritisch, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es auch hier wieder stark von den Eltern selbst abhängt, ob diese nur noch zu Hause bleiben und über ihre Kinder reden oder ob sie noch Sachen unternehmen und man gute Gespräche führen kann. Ich will zwar selbst immer noch keine, aber ich habe zumindest den Plan, die Freunde, die in den nächsten Jahren Kinder bekommen, so zu erziehen, dass sie coole Menschen bleiben und nicht ins Nur-Eltern-Dasein abdriften.
Es gibt noch weitere Anekdoten, die ich in dieser Richtung erzählen könnte, nicht nur im Lebensmodellbereich. Ich bin auch nicht jedes Mal komplett gegen die Idee, oft kann ich es mir nur einfach praktisch nicht vorstellen. Aber darauf will ich eigentlich nicht hinaus, sondern auf zwei andere Punkte:
1. Eigentlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich momentan deviante Lebensmodelle als gleichwertig zu den Standardmodellen durchsetzen. Denn immer mehr Menschen leben bereits so, davon erfahren natürlich ihre Freunde und deren Freunde, so dass bald soundso viele Menschen jemanden kennen, der das, was sie sich vorstellen könnten, bereits vorlebt. Damit sinkt entsprechend die Hemmschwelle, ein solches Modell für sich selbst umzusetzen.
2. Menschen wie ich sollten sich, wenn sie den Anspruch an sich haben, das wirklich passende Lebensmodell zu finden, eine ganze Menge anderer Modelle konkret ansehen. Ich bin nicht sicher, ob das bei mir in allen Lebensbereichen so ist oder sich nicht auf Beziehungsmodelle beschränkt, aber nach den oben geschilderten Erfahrungen frage ich mich manchmal, ob ich nicht eine Menge tolles Zeug dadurch verpasse, dass ich mir vorstelle, das und das ist blöd. Und so froh ich darüber bin, dass meine Meinungen nicht in Stein gemeißelt sind, so sehr finde ich es irritierend, dass meine theoretische Einschätzung und meine reale Wahrnehmung doch so weit auseinander liegen. Daher hoffe ich, dass meine Freunde auch in den kommenden Jahren viele skurrile Konzepte in die Tat umsetzen und dass eine von diesen Ideen zu mir passt.