Nebenjob: „Escort“

Hallo, nenn mich bitte Myrrha.
Seit zweieinhalb Jahren trage ich diesen Namen – gelegentlich und in ausgewählten Kontexten, nur für ein paar Stunden, nicht mehr. In diesen Stunden bin ich als Sexarbeiterin unterwegs, als „Escort“. Hier, auf Deviante Pfade, werde ich nun gelegentlich davon berichten.

Jeder Anfang ist aufregend und so fragt auch jede*r, der*die von meinem Nebenjob erfährt, erstmal, wie ich denn dazu gekommen wäre. Einerseits kann ich verstehen, dass diese Frage gestellt wird – andrerseits frage ich mich meist, was da Großartiges erwartet wird. War mein Ausprobieren in diese Richtung wirklich so extrem ungewöhnlich? Oder ist mein*e Gegenüber so überrascht, weil ich einfach nicht aussehe, wie er*sie sich eine Sexarbeiterin vorstellt? Sind die Geschichten von Loverboys und Menschenhandel so mächtig, dass meinen Gesprächspartner*innen schlicht kein „freiwilliger Weg“ in die Sexarbeit einfällt? Oder sind sie einfach neugierig?
Wie dem auch sei, heute mag ich von meinen Anfängen erzählen.

Ganz konkret

Seit Mitte September 2017 habe ich ein Kaufmich-Profil. Kaufmich ist eine Plattform für Sexarbeiter*innen und Kund*innen, ähnlich konzipiert wie etwas altmodische Datingportale (eher joyclub als tinder). Man kann sich kostenfrei oder als „Premium-Mitglied“ anmelden und sein Profil erstellen. Danach kann man Bilder einstellen und sich verifizieren lassen. Die Kommunikation zwischen den Sexarbeiter*innen und ihren Kund*innen funktioniert wie überall sonst auch – nur eben mit der Absicht, dass möglichst effizient ein möglichst angenehmes und lukratives Date dabei herauskommt.
Nun erstellt man sich natürlich in der Regel nicht einfach aus einer Laune heraus ein Kaufmich-Profil – in dieser Hinsicht gibt’s dann schon deutliche Unterschiede zwischen den üblichen Dating-Plattformen und den finanziell motivierten. Allerdings ist mir genau das passiert: ich kam leicht angetrunken nach Hause und war in genau der Art Laune, mit der die meisten Menschen, die „was Neues“ probieren wollen, eben bei tinder landen. Ich landete vor meinem PC, las ein spannendes Interview über Sexarbeit und Selbstwertgefühl und schwupps hatte ich ein Profil erschaffen. Am nächsten Morgen waren die ersten Anfragen in meinem Postfach und ich saß da, ziemlich überfordert von diesem abenteuerlichen Feld, in das ich mich da virtuell begeben hatte.

Inspiration

In dem Interview, das mir da in die Finger geraten war, wurde eine (ehemalige) Sexarbeiterin interviewt. Sie erzählte zunächst davon, wie unglaublich gut die Arbeit im Bordell für ihr Selbstwertgefühl gewesen sei. In dem Bordell, in dem sie arbeitete, gab es Frauen* mit ganz unterschiedlichen Körpern und eine jede wurde begehrt. Diese Vielfalt des Begehrens und der Kundschaft hatte die interviewte Sexarbeiterin tief beeindruckt und sie innerlich entspannt. Sie erzählte, dass sie auf diese Weise begriff, wie begehrenswert auch ihr Körper sei und wie gut dies ihrem angeschlagenen Selbstwertgefühl getan hätte.
Dieser Teil ihres Interviews hinterließ mich mit zweifelndem Staunen. In Anbetracht dessen, was ich über Sexarbeit zu wissen glaubte, war das kaum vorstellbar. Gut, in Extrembereichen konnte ich das noch denken – natürlich gibt es Fetischist*innen mit einer besonderen Vorliebe für sehr dicke oder sehr muskulöse Körper. Aber jenseits dieser Extreme… je jünger, normschöner und schlanker, desto toller – oder etwa nicht? Die medial verstärkte Attraktivitätshierarchie war omnipräsent in mir.

In einem zweiten Schritt erzählte sie von Plattformen wie Kaufmich und forderte dazu auf, dass die Leser*innen sich doch auch Profile anlegen könnten, nur so zum Spaß. Als Leitfrage schlug sie vor, jede*r sollte sich fragen, was so wertvoll an der eigenen Person und Gesellschaft sei, dass andere Menschen Geld für diese Aufmerksamkeit bezahlen sollten. Diese Aufforderung wirkte radikal – jemand sollte für meine Zeit bezahlen, meine Gesellschaft? Das bin doch nur ich!

In ihren Schilderungen ging es weiter mit privaten Dates, bei denen sie nur deshalb geblieben wäre, weil sie eingeladen wurde. Und wie oft sie nach semi-coolen Dates noch Sex hatte, weil der Andere die Rechnung bezahlt hätte und das „irgendwie dazu gehörte“.

Mit diesen Anekdoten rannte sie bei mir offene Türen ein. Ich war damals seit einem Jahr das erste Mal so richtig Single und auf den entsprechenden Plattformen unterwegs. Schon oft hatte ich mich selbst dabei beobachtet, wie erschöpft ich aus Begegnungen kam, weil ich ganz selbstverständlich gut zuhörte und emotionale Unterstützung leistete. Nicht selbstverständlich hingegen war es für mich, selbst zu erzählen oder Unterstützung anzunehmen. Mindestens genauso oft waren meine Partner nach dem Sex befriedigt und ich mit meinem Kopfkino zugange, weil er zum Orgasmus gekommen war, gerne auch mehrfach, ich aber eben nicht… Stichwort Orgasm Gap.

Befriedigung und Machtverhältnis?

Besonders herausfordernd war dieser Orgasm Gap für mich, wenn er sich mit meiner submissiven Seite koppelte. Es kickt mich im spielerischen Kontext unheimlich, wenn meine Befriedigung als „weniger wichtig“ gilt, ich „benutzt“ werde. Schwierig wird das allerdings, wenn das Spiel unabsichtlich zum Ernst wird, weil das Machtungleichgewicht nicht mehr ausgeglichen wird. Wenn dieser Ausgleich gar nicht gewünscht ist, ist das natürlich fein. Dann wissen aber auch alle Beteiligten, worauf sie sich einlassen. Oder sie wissen, dass sie es nicht wissen, und genau das ist der Reiz. Wenn aber Kuscheln und Aufgefangen-Werden nicht stattfinden, weil die submissive Person zu unsicher und unerfahren ist, um es einzufordern, und gleichzeitig verwirrt ihrer eigenen Lust gegenüber steht – weil es ja irgendwie auch total kickt, so was „Reales“ zu erleben – dann kann das innerlich verdammt schnell verdammt schräg werden.

Für mich brachte eine Begegnung das Fass zum Überlaufen. Ich hatte einen (wie ich damals glaubte) sehr erfahrenen Mann über eine BDSM-lastige Plattform kennengelernt. Wir verbrachten den Abend flirtend und ich war fasziniert – gierig und schamvoll zugleich, wusste nicht mehr so richtig, wo mir der Kopf steht. Irgendwie schwang da ein Machtverhältnis, das ich mir gar nicht so direkt eingeladen hatte, und irgendwie protestierte meine innere Feministin und irgendwie war das verdammt egal, weil es einfach so sehr kickte. Der Abend endete mit mir auf meinen Knien im Hinterhof meines Wohnhauses, sein Schwanz in meinem Mund, meine Vulva unberührt. Meine Vorsicht diktierte, dass ich ihn nicht in meine Wohnung ließ. In gewisser Hinsicht nahm ich mir damit auch die Möglichkeit der gemeinsamen Landung. Zugleich aber ging er, während ich da noch kniete, und schrieb zwei Tage später nur, ob ich Lust auf einen roten Arsch hätte – natürlich ohne, dass wir je darüber gesprochen hätten, ob ich überhaupt auf Schmerz stehe. Es wurde einfach vorausgesetzt. Kurz nach dieser Nachricht und meinem Verweis darauf, dass ich ein Mensch bin und kein reines Spielzeug, endete unser Kontakt. An einem Menschen und menschlichen, emotionalen Bedürfnissen hatte er offensichtlich kein Interesse – viel zu viel Aufwand!

Nach dieser Begegnung war meine experimentelle Seite erstmal stumm. Mir war klar, dass ich mich auf so etwas nicht mehr einlassen würde. Aber einen anderen Weg kannte ich auch noch nicht.
Das Interview mit der ehemaligen Sexarbeiterin ließ mich in neue Richtungen denken. Wenn ich diesen Ausgleich emotional nicht bekam, vielleicht ginge das ja mit Geld? So wär da zumindest irgendein Ausgleich, wenn mich dieses Benutzt-Werden schon so sehr kickt, für sich allein genommen aber nicht reicht und mir vor allem nicht gut tut…

Konsequenzen

Mir wurde bewusst, dass ich in meinem Dating und meiner Suche nach Bestätigung klassische patriarchale Muster par Excellence reproduzierte. Diese Muster waren so normal für mich, dass ich sie nie hinterfragt hatte. Alle Selbstreflexion und die ganze feministische Theorie der vorherigen Jahre hatten nicht ausgereicht, um wirklich an die dahinter liegenden Themen zu kommen. Da brauchte es erst diesen Blowjob in diesem Hinterhof und die Einsicht, dass es so für mich definitiv nicht funktionierte. Das erschreckte mich ganz schön und in diesem Erschrecken war es verdammt naheliegend, mir diese sexuelle und emotionale Arbeit erstmal bezahlen zu lassen.

Zugegeben, eine laute Stimme in meinem Kopf bezweifelte sehr, dass irgendjemand bereit wäre, mich und meine Verfügbarkeit zu bezahlen… aber diese Frage hatte sich nach den ersten 24 Stunden bei Kaufmich zumindest theoretisch erledigt, denn vor Anfragen konnte mein jungfräuliches Profil sich kaum retten.

Zugleich jedoch wusste ich nicht weiter, hatte keine Erfahrung und auch niemanden, der oder dem ich mal eben frei von der Leber weg von dieser nächtlichen Aktion und meinem neuen Profil erzählen wollte. Es folgte eine Zeit voller Ausprobiererei, Geheimnissen und teils echt schrägen Geschichten… aber davon erzähle ich nächstes Mal mehr. 😉

 

Myrrha wird in absehbarer Zeit gelegentlich hier von ihrer Arbeit berichten. Wir kennen sie persönlich und freuen uns, ihre Erfahrungen hier zugänglich machen zu dürfen.