Offenheit und Diskretion – ein unüberwindbarer Gegensatz?
Geschichten erzählen ist eine der ältesten Beschäftigungen der Menschheit und erfreut sich auch heute noch ungebrochener Beliebtheit. Wenn ich oder einer meiner Lieblingsmenschen auf einem Event war, erzählen wir uns hinterher voller Begeisterung, was wir dort erlebt haben. Es ist eine gemeinsame Aufarbeitung und auch eine Bestätigung des gegenseitiges Vertrauens. So ist es auch bei Events im BDSM- und/oder Poly-Bereich, wo irgendwann (fast) jede*r jede*n kennt.
Hier kann es schwierig werden, die viel gepriesene Offenheit durchzuhalten, weil man meist keine intimen Stories über einen Menschen weitererzählen will, den die andere Person kennt. Ich finde, wenn man eine Geschichte über eine unbekannte Person erzählt, die der/die Gesprächtspartner*in aller Wahrscheinlichkeit nie kennenlernen wird – oder sie entsprechend verfremdet –, geht das einfacher als wenn man mit einem gemeinsamen Freund im Bett war und jetzt gern über dessen Erektionsprobleme und mögliche Ursachen sprechen möchte. Auf der einen Seite zumindest. Auf der anderen Seite ist es oft hilfreich, wenn der/die Gesprächtspartner*in den Menschen, um den es geht, kennt. Dadurch kann eine weitere Sichtweise ins Gespräch eingebracht werden, die möglicherweise wichtige Aspekte zum Gesamtbild beiträgt.
Mehrseitige Diskretion
Eine essenzielle Voraussetzung hierfür ist, dass beiden Seiten klar ist, dass es sich um eine intime Information handelt und wie mit ihr umgegangen werden soll. Denn wenn ich im Vertrauen von den Erektionsproblemen des gemeinsamen Freundes berichtet bekomme, gehe ich im ersten Schritt davon aus, dass dieser nicht möchte, dass sie weitererzähle. Bis auf wenige Ausnahmefälle würde ich den Freund auch nie direkt darauf ansprechen, weil intime Informationen meiner Meinung nach aus freien Stücken geteilt werden sollten. Ich vermute, die meisten Personen haben ein Gespür dafür, dass etwas ggf. weitererzählt wurde, aber verlassen sich eben auch umgekehrt auf die Diskretion derer, die es gehört haben. Mir geht es oft so, wenn ich Menschen, die Teil einer innigen Paarbeziehung sind, private Dinge von mir erzähle – ich gehe davon aus, dass sie bestimmte Sachen durchaus ihrem/r Partner*in erzählen. Aber ich verlasse mich darauf, dass auch diese meine Diskretion wahren.
Und klar, man könnte es auch überhaupt nicht erzählen. Aber ich finde, um bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse zu verarbeiten, ist es absolut hilfreich, diese mit vertrauten Menschen zu teilen. Sonst steckt man irgendwann im eigenen Kopf fest. Gerade wenn es um sexuelle Themen geht, reden viele Menschen sowieso viel zu wenig miteinander. Beispielsweise haben viele junge Mädchen das Bedürfnis nach einem Eingriff an ihrer Vulva, weil das Vulva-Bild unserer Gesellschaft meist lediglich eine einzige von vielen möglichen Varianten zeigt, und sie denken, ihre eigene Form wäre nicht okay.
Versuch macht klug
Mir ging es vor einigen Jahren so, dass ich mit einem Freund eine intime Information über mich geteilt habe. Dieser hat, aus dem Bedürfnis heraus, mehr Informationen zusammenzutragen und mir dadurch zu helfen, gleich mehrere Freund*innen zu diesem Thema befragt. Eine der Freundinnen hat dann erst einmal nachgefragt, ob mir das überhaupt recht wäre, wenn er so offen mit ihr über dieses Thema spricht. Darauf hat sich mein Freund bei mir entschuldigt und mich gefragt, wie er das in Zukunft handhaben solle. Ich denke, wir haben beide daraus gelernt: Ich, dass ein konkreter Hinweis, dass etwas intim ist, hilfreich ist, da wir alle eine unterschiedliche Definition von Intimsphäre haben. Er, dass man bei sensiblen Informationen besser nochmal nachfragen sollte, wie diskret man mit ihnen umgehen soll.
Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass sich das im Laufe einer Freundschaft oder Beziehung recht gut einpendelt. Zumindest ich habe mit den meisten meiner Lieblingsmenschen ein gutes Gespür dafür entwickelt, wie sie mit intimen Informationen umgehen und wie viele Informationen sie überhaupt bekommen möchten. Denn trotz allem Erzählbedürfnis sollte man sich die wichtigste Regel von Geschichtenerzähler*innen vor Augen halten: Was will mein Publikum überhaupt hören?