Über die Liebe namens Freundschaft
In den verschiedenen Diskussionen zum Thema Polyamorie und Beziehungsanarchie, die ich momentan verfolge, taucht regelmäßig das Thema „Freundschaft“, meistens in Abgrenzung zu romantischen Beziehungen, auf. Während in vielen Polykreisen es immer noch eher Konsens ist, romantische Beziehungen von Freundschaften zu trennen und letztere als etwas zwar durchaus Wertvolles, aber irgendwie auch weniger Wichtiges als romantische Beziehungen anzusehen, in denen man seine Partner ja liebt, bestehen Beziehungsanarchisten darauf, jede einzelne zwischenmenschliche Beziehung als etwas Individuelles zu betrachten und diese nicht in Schubladen wie Freundschaft, offene Beziehung etc. einzusortieren.
Ich finde mich zwischen diesen Herangehensweisen immer in der Mitte wieder. Für mich ist die Liebe in einer romantischen Beziehung tatsächlich nicht zwingend wichtiger als die Zuneigung, die ich zu engen Freunden empfinde. Aber ich empfinde es auch nicht als abwertend der Beziehung gegenüber, Freundschaften unter diesem Namen laufen zu lassen (vor allem da meinem Empfinden nach mit dem Label Freundschaft weniger hinderliche Erwartungen mit einer zwischenmenschlichen Beziehung verknüpft werden als es bei anderen Labels der Fall ist). Im Übrigen glaube ich, dass wir uns in dieser Hinsicht in der deutschen Sprache selbst im Weg stehen, da es sich nicht richtig anfühlt, einem Freund oder sogar einem Familienmitglied zu sagen, dass man die Person liebt, wobei das in meinem Fall sowohl bei engen Familienmitgliedern als auch bei engen Freunden durchaus der Fall ist. Zu irgendeinem Zeitpunkt hat sich die Formulierung „Ich liebe dich“ zu etwas etabliert, das romantische Nähe und sexuelle Hingezogenheit sowie ein Zugehörigskeitsverständnis zu dem Gegenüber impliziert. Zwischen Freunden und Familienmitgliedern ist es zumindest in meinem Umfeld Konsens, das putzige und weniger wertig wirkende „Ich hab dich lieb“ zu verwenden. Ist es ein Wunder, dass wir daher die romantische Liebe über andere Beziehungen stellen wollen?
Ein beständiger Krisenpunkt in meiner letzten Beziehung war die Thematik, dass meine Freunde ein sehr zentraler Bestandteil meines Lebens sind und ich tatsächlich nicht verstehe, wieso Freunde automatisch hinter Beziehungspartnern rangieren sollten. Warum ich Menschen, die mich teilweise seit 15 Jahren kennen, mit denen ich die bis jetzt wichtigsten Schritte in meinem Leben geteilt habe und die schneller in der Lage sind, mich zu durchschauen und mir wertvolle Kritik zu geben, als ich es selbst bin, nur durch die Tatsache, dass ein romantischer Beziehungspartner in mein Leben getreten ist, für mich weniger wert sein sollen. Wenn eine Beziehung zwischen zwei Menschen (unabhängig davon, ob sie romantisch oder platonisch ist) sich zu einem engen, vertrautem und für beide Personen sicherem Konstrukt entwickelt, in dem jeder einzelne das Gefühl hat, angekommen zu sein und er selbst sein zu dürfen, sogar in seinen weniger schönen Aspekten, dann ist es völlig verständlich, wenn sich Prioritäten verschieben. Aber das benötigt Zeit und gegenseitiges Kennenlernen und sollte nicht per se durch einen bestimmten Beziehungsstatus vorausgesetzt werden.
Die besagte Beziehung ist im Übrigen auseinandergegangen und in der schmerzvollen und verletzlichen Phase, die ich danach durchlaufen habe, habe ich bewusst auf mein Netzwerk an Freunden in meinem Leben zurückgegriffen und um Hilfe gebeten. Den Rückhalt und die Fürsorge, die ich daraufhin erfahren habe, haben mir nicht nur unglaublich viel Kraft gegeben, sondern mir zusätzlich auch geholfen, nicht daran zu zweifeln, dass ich wertvoll bin.
Ich finde es im Übrigen sehr unnötig, die Wertigkeit von Freundschaften und romantischen Beziehungen zwingend vergleichen zu wollen. Natürlich kommt diese Thematik vor allem im Hinblick auf den Zeitfaktor auf, den man bereit ist, in einzelne Beziehungen zu investieren, aber auch hier gilt, dass es für mich keine generellen Gewichtungen zu einer bestimmten Person geben kann, sondern dass ich in jeder einzelnen Situation abwägen muss, was die einzelnen Beteiligten gerade brauchen und welchen Bedürfnissen ich gerade Priorität gewähre (das kann sogar einfach meine eigene sein). Die Denkhaltung, mit der ich hier die meisten Übereinstimmungen gefunden habe, ist die Solo-Polyamorie, die sich selbst als den wichtigsten Beziehungspartner ins Zentrum stellt und andere wichtige Beziehungen um sich herum versammelt. Viele Menschen, die sich als Solo-Polys bezeichnen, legen großen Wert darauf, ein starkes Netzwerk an Freundschaften um sich herum aufzubauen und somit weniger Ansprüche und Bedürfnisse auf spezielle romantische Beziehungspartner zu verteilen.