Warum Männer mehr kuscheln sollten
Neulich wurde mir der Artikel Why men are so obsessed with sex des Psychologen Steve Bearman empfohlen. Der Artikel richtet sich an Männer und fokussiert sich auf die Sexsucht, die laut dem Artikel bei jedem Mann in unserer Kultur mehr oder weniger stark ausgeprägt ist. Zunächst geht es aber um die Art und Weise, wie insbesondere Männern eine emotionale Isolation anerzogen wird.
Männer weinen nicht
Nach den Erkenntnissen von Bearman werden Kinder bis zu einem bestimmten Alter gleichberechtigt gehalten und bekuschelt, doch schließlich wird ein Unterschied zwischen Jungs und Mädchen gemacht. Jungs wird auf Kosten der Intimität beigebracht, selbstständig zu werden. Dadurch erfahren sie schon (viel zu) früh die sexistische Prägung, etwas Besseres als Mädchen zu sein. Wenn Jungs versuchen, gegen das natürliche Bedürfnis nach Intimität aufzubegehren, werden sie als schwul oder mädchenhaft abgestempelt und ausgelacht. Statt Beziehungen mit anderen Menschen einzugehen, werden sie darauf getrimmt, wetteifernde und konkurrenzbetonte Verhältnisse einzugehen. Die dadurch entstehenden gewaltbasierenden Gruppen bieten eine gewisse Kameradschaft und Verbindung, aber verschleiern – da keine Zärtlichkeit geboten werden kann – die Isolation.
Was denn für eine Isolation? Man ist doch in Gesellschaft! Ja, mag sein, aber um Gefühle wie Trauer, Angst, Wut, Scham, Frust etc. spüren zu können, braucht man die liebevolle Zuwendung eines anderen Menschen. Jungs wird aber stattdessen beigebracht, mit diesen Gefühlen irgendwie selbst zurecht zu kommen. Oder wie es „The Cure“ sagen würde: Boys don’t cry. Als Folge dieser Unterdrückung verlieren Jungs das Gefühl zu ihrem Körper und das kann in Extremfällen sogar so weit gehen, dass sie sich als Mann gar nicht mehr vorstellen können, wie Zärtlichkeit überhaupt sein kann. Dennoch ist das Bedürfnis nach Intimität, Leidenschaft und Nähe irgendwo vergraben noch vorhanden. Die einzige Möglichkeit, diese verlorenen Gefühle wieder zu spüren, ist Sex! Und tatsächlich kann Sex eine Quelle von Liebe, Genuss, Intimität und Sinnlichkeit sein, aber das ist es nur, wenn wir mit unserem eigenen Körper in Kontakt sind*. Wenn wir dieses Spüren des eigenen Körpers, das wir in der Kindheit nicht lernen konnten, nicht als Erwachsene lernen, wird Sex immer nur für kurze Zeit befriedigend sein.
Zurückweisung bei starken Emotionen
Diese Beschreibung deckt sich auch mit meinen Erkenntnissen, die ich in den letzten sieben Jahren über mich erlangt habe. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie oft ich in meiner Kindheit und Jugend umarmt wurde, weil es so selten gewesen sein muss. Als ich dann auf Treffen der Anime-Szene zur Begrüßung, zum Abschied und einfach auch mal zwischendurch viel umarmt wurde, lernte ich überhaupt erst, wie man Menschen auch außerhalb von sexuellen Wünschen berühren kann. Dennoch traf ich außerhalb der Szene eher auf Missverständnisse. Zum Beispiel umarmte ich meinen Vater zur Begrüßung und bekam als Antwort, ich solle mit ihm nicht so viel Mitleid haben. Ein anderes Mal traf ich nach langer Pause einen alten Kumpel und war so voll Freude erfüllt, dass ich ihm in die Arme sprang und in der Euphorie einen Kuss auf den Hals gab. Die Gegenreaktion: Hey, ich bin doch nicht schwul!
In meiner Jugend war ich ständig in unerreichbare Mädchen verliebt. Weil ich Sehnsucht nach Nähe und intimer Verbindung hatte, war ich wie ein verlorener Romantiker. Für junge Mädchen kann jedoch die Konfrontation mit den sehnsüchtigen Gefühlen eines Jungen beängstigend sein. Ich war immer neidisch auf die attraktiven Jungs, die ja so männlich waren und nicht so gefühlsduselig wie ich. Wenn ich diesen Neid und diese Sehnsucht nicht mehr aushalten konnte, versuchte ich wie sie zu sein. Das klappte auch eine Weile und lenkte mich von der Trauer und Einsamkeit in mir ab. Aber das bin nicht ich! Ich bin mit mir selbst und meinen Bedürfnissen auf diese Weise nicht in Kontakt und so eine Selbstlüge geht nur für begrenzte Zeit gut.
Bewusstseinswandel und Konfrontation
Nachdem ich dann vor fünf Jahren und kürzlich wieder mit meiner Sehnsucht konfrontiert wurde, habe ich nun beschlossen, dieser Sehnsucht nicht mehr mit Alkohol, Computerspielen oder aufgesetzter Männlichkeit zu entfliehen. In diesem Bewusstsein ist es manchmal hart, wenn man zurückgewiesen wird und spürt, wie sehr das innere Kind dann jedes Mal aufschreit. Aber ich kann das aushalten und dadurch verdränge ich es nicht. Dadurch, dass ich ihm erlaube, da sein zu dürfen, staut sich nichts mehr in mir auf und erstaunlicherweise hält es nur kurz an.
Das Bewusstsein alleine reicht jedoch nicht, denn das Bedürfnis nach Nähe und intimen Kontakt ist weiterhin vorhanden. Als ich das letzte Mal beim Pfingstfestival im ZEGG war, habe ich gespürt, wie sehr mein Bedürfnis nach Nähe unerfüllt ist. Zunächst war es nur ein Experiment: Kuscheln! Ich bin auf eine Kuschelparty gegangen und tatsächlich war ich danach wesentlich entspannter als gewöhnlich. Die ständige Unruhe in mir war besänftigt. Allerdings habe ich auch gemerkt, dass ich relativ schnell „satt“ war und nicht stundenlang mit fremden Menschen kuscheln brauche. Anscheinend brauche ich nur kleine Portionen von Nähe, aber dafür möglichst regelmäßig. Ich habe deswegen zwei Kuschelbeziehungen angefangen.
Erlebnisse mit Männern
Letztes Wochenende war ich wieder in der Gemeinschaft, in die ich nächstes Jahr gerne ziehen würde. Es war ein Wochenende mit vielen offenen Gästen. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um möglichst viel zu kuscheln, und fand es total toll, auch mit einigen Männern kuscheln zu können. Da ich bisher noch nie sexuelles Verlangen nach Männern verspürt habe, stelle ich mir beim Kuscheln mit Männern nämlich nie die Frage, ob sich neben dem Bedürfnis zu kuscheln auch sexuelle Wünsche regen. Das macht es für mich wesentlich entspannter, da ich nicht darüber reflektieren muss, was ich will, und ob ich das nun kommunizieren müsste.
Da ich glaube, dass fast jeder Mann sein Bedürfnis nach Nähe zu wenig gestillt bekommt, kann ich jedem nur empfehlen, wesentlich mehr zu kuscheln. Es ist wichtig, in sich hinein zu spüren und ehrlich mit seinen Sehnsüchten zu sein.
* In diesem Artikel geht es – wie eingangs erwähnt – um Männer. Ich kenne aber auch einige Frauen, die ihren Körper nicht mehr spüren können. Allerdings ist der Weg dorthin ein anderer als bei Männern. Einen, den ich nicht so gut wie den Weg der Männer nachempfinden kann. Aber wenn sich hier eine Frau berufen fühlt, den Artikel zu ergänzen, dann schreibe sie gerne in das Kommentarfeld oder einen Gastartikel 😉