Was ist schon normal?
Neulich hatte ich einen Streit mit einem sehr engen Freund über Normalitätsvorstellungen. Eigentlich fing unsere Diskussion ganz harmlos damit an, uns über gutes Benehmen auszutauschen. Da ich von meinen Eltern recht frei erzogen wurde, durfte ich mich als Kind oft so benehmen, wie es mir gefiel, und habe wenig Anleitung bekommen, wie sich andere Menschen mein Benehmen wünschen könnten. Im späteren Alter habe ich mich, um mich in Gruppen anzupassen, oft den Erwartungen in Bezug auf gutes Benehmen von anderen angepasst. Aber den Sinn dahinter habe ich nie so richtig verstanden. Wenn jemand etwas eklig findet und ich etwas dagegen tun kann, dass er sich von mir angewidert fühlt, mache ich natürlich gerne etwas dagegen. Mein Freund hingegen hat eine andere Perspektive: Wenn jemand z. B. beim Essen schmatzt, dann findet er, dürfen Menschen für dieses schlechte Benehmen gemaßregelt werden. Ich dachte, ihn stört das Geräusch, aber ihm ist viel wichtiger, dass es eine Legitimation gibt, Menschen für ein solches Benehmen zurechtzuweisen: Der „common sense“ (im Fachdeutsch: Normalitätsvorstellung).
Normalitätsvorstellungen halten eine Gruppe zusammen
Bei dieser Aussage bin ich richtig wütend geworden. Ich hätte ja verstanden, wenn er die Legitimation zu einer Zurechtweisung irgendwie auf die Menschenrechte oder unser Grundgesetz zurückgeführt hätte … aber ausgerechnet die Normalitätsvorstellung?
Aber fangen wir zur Problematik der Normalitätsvorstellung von vorne an: Die meisten Menschen verspüren ein Bedürfnis, Sippen zu bilden, da wir ohne sie vor der Industrialisierung nicht in der Lage gewesen wären, zu überleben. Eine gemeinsame Vorstellung davon, was in der Sippe normal ist, bringt eine Identitätsmöglichkeit mit der Sippe mit sich und schweißt diese zusammen. Wer aber zur Sippe nicht dazugehört, weil er sich falsch verhält, würde die Identität der Sippe und damit die gesamte Gruppe in Frage stellen. Deswegen hat es sich eingebürgert, innerhalb einer Sippe Menschen zurechtzuweisen, wenn sie sich nicht „sittengerecht“ verhalten. Würde man die Zurechtweisung nicht anerkennen, dann müsste man befürchten, ausgeschlossen zu werden. Durch diese Ängste entstehen bei Menschen Schuld- und Schamgefühle. Diese Gefühle wiederum führen dazu, dass Personen sich der Gruppe unterordnen und ihr somit die Macht geben, mit Zurechtweisungen über sie zu bestimmen.
Nun möge man sagen, diese Schuld und Schamgefühle hätten eine wichtige soziale Funktion. Jede Sippe, Clique, Gruppe oder sonstige Zusammenkunft kann ihre Identität und die damit zusammenhängenden Normalitätsvorstellungen frei wählen. Da habe ich gar nichts dagegen (solange keine Menschenrechte dadurch verletzt werden, wie z. B. durch menschenverachtendes Gedankengut). Ganz im Gegenteil, ich halte es sogar essenziell wichtig, sich auf eine Gruppe und ihre Identität einzulassen, um sich selbst auch darüber definieren zu können. Aber wie schrecklich monokonform wäre denn unsere Gesellschaft, wenn es nur ein einziges richtiges „normal“ gäbe? Wie sollte sich denn unsere Gesellschaft verbessern, wenn es nicht hin und wieder Abweichler gäbe, die für eine komplett neue Perspektive sorgen würden?
Normalitätsvorstellungen gibt es in vielen Bereichen
Im Übrigen gibt es auch über den menschlichen Körper und unsere Sexualität Normalitätsvorstellungen in der Gesellschaft. Es ist eine Vorstellung davon, welche Eigenschaften des Menschen als gesund gelten, und nur wenn man diese erfüllt, ist man normal. Das führt dazu, dass sich Menschen z. B. für ihre Makel, ihre sexuelle Orientierung oder einen ungewöhnlichen Fetisch schämen. Da man sich häufig nur schwierig oder mit viel Geld oder Manipulation so „gesund“ machen kann, wie es die Gesellschaft einem durch die Macht von Normalitätsvorstellungen aufdrängt, würde man sein ganzes Leben mit Schuld und Scham leben müssen – es sei denn, wir (also die gesamte Gesellschaft) hört endlich mit diesem Blödsinn auf, zu glauben, was allgemein richtig sei, und sieht stattdessen jede Person als Mensch statt als Ding mit Makeln und Perversitäten an.
Mit meinem Freund bin ich in der Diskussion leider nicht auf einen gemeinsamen Nenner gekommen. Erst am darauffolgenden Tag, als sich der Streit gelegt hatte und wir nicht mehr in unserem Wutgefühl gefangen waren, gab er etwas Erstaunliches zu: Er hatte sich nur deswegen auf die Normalitätsvorstellung als Instanz berufen, weil er befürchtet hatte, seine Gefühle und Bedürfnisse würden von „Abweichlern“ nicht ernst genommen werden. Indem er sich also auf „eine höhere Instanz“ berufen hatte, glaubte er, seine Bedürfnisse hätten eine Legitimation und damit auch ein Anrecht darauf, durchgesetzt zu werden. Das finde ich eine erstaunliche Erkenntnis. Vielleicht bräuchten wir allgemeine Normalitätsvorstellungen ja nicht mehr, wenn wir uns gegenseitig aufmerksam zuhören und die Bedürfnisse aller Menschen ernst nehmen würden?
Sind solche Normativitätsvorstellungen vielleicht einfach ein Relikt aus der Zeit in der alles über Hierarchien geregelt war. Also die Normativitätsvorstellung vielleicht auch als Erfüllungshilfe einer hierachisch organisiereten Gesellschaft ?
So war früher das Machtgefällt zwischen Menschen klar, die Notwendigkeit Bedürfnisse anderer wahrzunehmen war in einigen Konstellationen ja kaum notwendig:
Lehrer > Schüler
Chef > Angestellter
Der „Vorteil“ dieses Systems, so absurd es im ersten Moment klingt ist das Konflikte vermieden werden, es ist ja klar geregelt wer entscheidet. Die Notwendigkeit zur bedürfnisorientierten Kommunikation entfällt und verkümmert da man gewohnt ist das die eigenen Bedürfnisse nur dort gehört und respektiert werden wo man „oben“ oder „im Recht ist, weil man das nun mal so macht“.
Da können sich Menschen durchaus hilflos fühlen wenn Sie diesen Rahmen verlieren da Sie sich nicht vorstellen können das Ihre Bedürfnisse „einfach so“ gehört werden. Oder Sie wissen gar nicht wie Sie nach Ihren Bedürfnissen fragen können, bzw. Sie sind sich Ihrer eigenen Bedürfnisse gar nicht mehr wirklich bewusst.